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mein politisches ich

Mein politisches ich wurde auf recht unschöne Weise an einem Schulvormittag wach gerüttelt. Gelangweilt saß ich in einer Geschichtsstunde. Vielleicht war ich so um die 13, 14 Jahre alt. Achte Klasse. Ich träumte. Selbstverständlich träumte ich, mich interessierte nicht wirklich, was da in der Schule geschah.

"Susanne, sag uns bitte wofür EU steht!", hörte ich mit einem Male die harsche Stimme meines eigentlich ganz netten Geschichtslehrers. Der Moment, in dem alle Augen sich auf einen richten. Du spürst förmlich, dass die Hälfte der Klasse eine peinliche Antwort erwartet, nur um laut loslachen zu dürfen. Meine Güte, EU. Woher zum Teufel sollte ich das wissen? Ich war gerade meinen Barbiepuppen entwachsen, mein erster Freund hatte sich umgebracht, also bitte, ich hatte wirklich andere Sorgen als mich darum zu kümmern, welche hirnrissigen Abkürzungen sich Politiker einfallen ließen.

EU.

Ich weiß noch genau wie ich da saß und mich dafür schämte nicht sofort mit der Antwort heraus sprudeln zu können. EU. Mein Hirn marterte sich. Die Blicke brachten mich ins Schwitzen.

"Susanne, komm, du wirst doch wissen, was EU bedeutet!"

EU. Wozu sollte ich so etwas wissen, wenn ich damit beschäftigt war "Don't answer me" zu übersetzen?

Mir rann die Zeit davon. Ich schämte mich. Ein Erdloch und ich wäre darin verschwunden.

EU.

Mir blieb eine Frist von maximal zwei Sekunden. Der Lehrer hatte nicht die geringste Lust länger zu warten. Die Schüler kicherten schon jetzt blöde.

EU.

"Europäische Union!", platzte ich mit einem Male heraus. Nein, es hatte mir niemand vorgesagt. Nein, ich habe es auch nicht wirklich gewusst. Und ja, es war mir immer noch sowas von egal.

Keine Ahnung, was in der Stunde eigentlich besprochen wurde. Keine Ahnung, wie die Stunde weiter ging.
Aber dieser peinliche Augenblick. Dieses lähmende Nichtwissen hat sich in mir festgegraben.
Mein politisches ich war erwacht.

Fortan las ich alles, was irgendwie mit Geschichte und Politik zu tun hatte. Sogar Parteiprogramme las ich. Quälte mich durch ellenlanges Gewulste, bildete mir eine Meinung, einen Standpunkt. Konnte rechts von links unterscheiden - nun ja, politisch zumindest.

Natürlich wurde ich aktiv. In der Oberstufe. Die Grünen, Amnesty International - ich interessierte mich, engagierte mich, desillusionierte mich.
Letztlich, irgendwann.

Heute frage ich mich, wann mein politisches ich sich eigentlich bequem zur Ruhe gebettet hat? Während des Studiums war ich noch eifrige Golfkriegprotestlerin. Und danach?
Im Referendariat gab ich Amnesty auf, zu wenig Zeit.
Kurze Zeit später war ich ganz sicherlich nicht mehr "grün" zu nennen.
Und dann?

Ich habe den Eindruck, in den letzten Jahren sind viele Dinge einfach an mir vorbei gerauscht. Zur Kenntnis genommen, aber in Hast und Eile. An der Oberfläche gekratzt, nie in die Tiefe gehend.
Welche Rollen waren es, die mich meisterlich und gänzlich absorbierten? Das Muttersein? Das berufliche Dasein? Das Leben als Partnerin? Wohl kaum. Vielleicht werden Blickwinkel enger. Vielleicht lässt man sich aber auch einfach von einer Woge der Gleichgültigkeit mitreißen?

War ich selbst mir stets Zentrum genug?

Es hat mich erschreckt, als mein politisches ich sich mit einem Male zu recken und zu strecken begann. Es räkelte sich hier und da und wurde schier vom Sofa gerissen, als ich ein Buch begann zu lesen und es nicht mehr aus der Hand legen konnte.

"11. September, Geschichte eines Terrorangriffs" von Stefan Aust, Cordt Schnibben. Nicht nur der grausame Inhalt dieses Buch jagte mir Schauer des Entsetzens über den Rücken. Die Tatsache, dass mein Blickwinkel sich in den letzten Jahren deutlich verengt hatte, die Tatsache, dass ich achtlos mein politisches ich schlafen ließ, die Tatsache, dass ich mit Scheuklappen durch das Leben lief hat mich ebenfalls erschüttert.

Nein, ich war nicht gänzlich desinteressiert. Auch nicht uninteressiert. Aber ich habe das genau Hingucken unterlassen. Und ich habe weggesehen. Das ist für mich das Schlimmste. Gewesen zu sein, wie ich eigentlich nicht bin.

Glücklichweise lässt sich ändern, was als ungut entdeckt und aufgespürt wird. Und das ist durchaus ein sehr befreiendes Gefühl.

augenBloglich 07.08.2005, 20.17

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Sonia

Einfach nur DANKE für diesen Eintrag!
Gruß von Sonia

vom 09.08.2005, 16.34
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Marie
Toll, dass Du wieder bloggst!
Ich wünsche Dir ein frohes neues Jahr und hoffe, ich lese Dich nun wieder regelmäßig!
2.1.2015-4:56
Hanna
Nochmal herzlichen Dank für die Hilfe und du hast einen sehr tollen Blog ! (:
26.11.2011-16:21
Gartenfee
Hi, bist du gar nicht mehr hier am Werk??? Das wäre aber schaade.
25.2.2011-23:00
patricia
wie heißt deine lehrerin!!!!!!!!
1.3.2008-16:20
NIcole
Hey, ich find das super das Du Dich durchgesetzt hast bei den anderen Müttern. Ist doch egal was die sagen. Bin stolz auf Dich. lieben Gruß
NIcki
30.3.2007-9:25