Ausgewählter Beitrag
Ich mag unsere Kinderärzte. Dieses Ehepaar nimmt sich stets viel Zeit, hat unendlich viel Geduld und eine wirkliche Gabe, mit Kindern - mit kranken Kindern ! - umzugehen. Was ich weniger mag sind die beiden Wartezimmer. Vorhöfe der Hölle. Zumindest am heutigen Freitag Nachmittag. Lena und ich quetschten uns in einen der völlig überfüllten Räume. Sprachenmischmasch schlug uns entgegen, das durchdringende Schreien von kleinen Kindern, großen Kindern, Kindern aller Altersklassen. Die überdimensional riesigen Legosteine flogen bereits durch die Luft, erste Kinder prügelten, Mütter gifteten ihre Sprösslinge an und wir setzten uns zaghaft dazwischen.
Neben mir, der etwa zehnjährige Junge, schielte mich mit einem lieben Lächeln nett an und fing dann lauthals an zu singen: "Willst du jetzt wirklich gehen, Lucille!" Ich muss gestehen, er konnte den Text nahezu perfekt und dieser song hatte verdammt viele Strophen. Besonders angetan hatte es ihm aber die Zeile: "unsere Kinder sind krank und die Schulden so viel.... willst du jetzt wirklich gehen, Lucille ?" Eine türkische Mutter, die mit ihren vier Kindern kämpfte, geriet in schiere Verzückung und bat den Jungen bei der kleinsten Atempause: "Sing weiter, bitte!" Neben mir erbrach ein Kleinkind, verfehlte meine Schuhe um Millimeter, spuckte aber dafür mächtigst über ein ebenfalls kleines Kind, das lauthals zu brüllen anfing, während die Mutter in Ekelschauern erbebte.
Männer [Väter ?] sahen sich hilflos, genervt und nach einer Fluchtmöglichkeit schauend um. Das Schaukelpferd kippte unter drei streitenden Geschwistern zusammen, was die Mutter der Pferdplager mit den Worten: "Pass auf, dass ich euch nicht gleich eins scheuer!" kommentierte. "Du hast doch gesagt, du bist die Frau, die mit mir ihr Leben teilen will, willst du jetzt wirklich gehen, Lucille?" Trinkpäckcheninhalte spritzten durch Strohhalme, verfehlten jedoch leider die Münder der Trinkpäckchenhalter und gerieten mir - versehentlich - ins Auge. "Kerr, schütt do nich datt teure Zeugs aus!", fluchte die Trinkhalmpäckchenkindermutter und stieß eines ihrer Kinder unsanft zur Seite. "Unsere Kinder sind krank und die Schulden so viel.... willst du jetzt wirklich gehen, Lucille ?" "Mama, warum singt der Junge so scheußlich?", fragt mich Lena und ich drücke mich um eine Antwort und hole das mitgebrachte Märchenbuch heraus. Hinter mir erbricht ein Baby. Meine Schuhe verfehlt es, aber meine Jacke lag im Weg. "Willst du jetzt denn schon gehen, Lucille?" Das Märchenbuch wird mittels eines herbeifliegenden Legosteins größerer Größe in die Mitte des Zimmers katapultiert. Lena eilt hinterher, stolpert über eines der zu Dutzenden am Boden sitzenden Kinder, schlägt der Länge nach hin und eilt heulend und mit blutender Nase zur mir zurück. "Willst du wirklich jetzt gehen, Lucille ?" Die Lautstärke steigt ins Unermessliche, was durchaus daran liegen könnte, dass diverse verwandtschaftlich verbandelte Familien aufeinandertreffen und eine nicht gerade geräuscharme, sehr interessant anzuschauende Begrüßungszeremonie zelebrieren. Das Schaukelpferd, zwischendurch wieder aufgerichtet, schlägt erneut zur Seite, begräbt diesmal aber zwei tobende Kleinstkinder unter sich. Der Arzt muss kommen. Lena weint immer noch. Das Nasenblut lässt sich recht gut mit meiner Bluse abwischen.
Neulinge stoßen zu uns und schauen ein wenig angewidert ins Getümmel. DER Hochmut wird diesen Frischlingen bald vergehen. Sitz Ihr erstmal eine Stunde hier, dann sehen wir weiter. 90 Minuten sind vergangen. Ich wähne mich im Vorhof zur Hölle. Eine Rutsche wird aus dem anderen Wartezimmer in unseres geschoben, Millionen Kinder stürzen auf selbige zu, was diese zusammenbrechen lässt. Kinder, die bislang nicht geschrien haben, schreien nun. Babys werden wach und schreien auch. Nicht zu vergessen die schreienden Mütter. "Unsere Kinder sind krank und die Schulden so viel.... willst du jetzt wirklich gehen, Lucille ?" Jetzt wird es der Sängermutter wohl doch zu viel, sie herrscht ihren Sohn an: "Lass das jetzt sein! Du bist hier nicht zu Hause, benehme dich jetzt bitte!" Der Sohn wirkt leicht entnervt und ignoriert die keifende Mama, diese wiederrum schaut flehentlich bittend in die Runde, ganz so, als könne wer anders ihren Sohn "abstellen". Oder gar so, als verstünden alle um sie herum die Schwierigkeit, Kinder in dem Alter zu erziehen. Mir ist so danach ihr in den Rücken zu fallen und ich wage zu bemerken: "Er singt doch so schön!" Ein wunderbarer Anstorm für diesen missverstandenen jungen Mann und er legt sich ins Zeugs: "Und jetzt aus tausend Mädchenkehle: Willst du jetzt wirklich gehen, Lucille!" Ein Fenster knallt zu, eine Kinderhand dazwischen. Es wird ein wenig NOCH lauter und Lena möchte gerne nach Hause. Wir warten aber doch erst 2 Stunden. Nur die Ruhe bewahren.
Zu uns gesellt sich ein Junge, geschätztes Alter 9 Jahre. "Ey, weisse watt ? Die hätten mich doch besser auf die Bonnischule gehen lassen [Hauptschule hier vor Ort], da darf man appe ersten Klasse rauchen !" Ich kann leider nicht antworten, weil ein Handkantenschlag mir ins Genick fährt. "Josh, ich hab dir tausend Mal gesagt, wir schlagen nicht. Nicht fremde Leute." Josh macht nicht unbedingt den Eindruck, als würde ihn das irgendwie berühren.
Ein Kleinkind übergibt sich auf die Schuhe einer anderen Mutter. Kinder schreien, Mütter schreien. Mein Kind muss zur Toilette, die aber ist besetzt. "Mama, wenn ich detz nicht darf, dann läuft alles in die Hose!" Fliegende Legosteine, fallende Schaukelpferde, keifende Mütter, sich übergebende Kinder, begrüßenden Großfamilien, ein Kind, das muss und nicht kann, Blut auf der Bluse, kein Erbrochenes am Schuh.
Ich finde, man kann durchaus eine positive Bilanz ziehen! "Unsere Kinder sind krank und die Schulden so viel.... willst du jetzt wirklich gehen, Lucille ?"
augenBloglich 19.11.2004, 18.58
Oh weia, das liest sich ja wie ein Alptraum übelster Sorte...
Und wieder einmal bin ich heilfroh, daß wir hier am A...llerwertesten der Welt wohnen und unsere Ärzte offensichtlich keine Organisationsprobleme haben.
Ganz liebe Grüße und "hut ab" (ich wäre geflüchtet)
Chris & Co.
vom 21.11.2004, 11.48