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Wir müssen über Kevin reden

Ich verschlinge Bücher gleich Chips, nahezu unersättlich. Habe ich eines ausgelesen, greife ich zum nächsten, nutze sie als Fluchtmomente im Alltagstrubel, die mir Ausgleich, Entspannung oder gar den Blick über den Tellerrand ermöglichen.

Dieses Buch fand mich per Zufall. Ja, es fand mich, nicht ich es. So zumindest kam es mir vor.
Auf dem runden, blankpolierten Eichentisch in der kleinen Buchhandlung, die ich nur aufsuchte, um mich vor einem überaschenden Platzregen ins Trockene zu flüchten, lag es inmitten angepriesener Bestseller.
Unscheinbar, obwohl der knallrote Umschlag Signalwirkung ausstrahlen müsste, aber das Buch hatte nichts von all dem Merchandising der drumherum gelagerten Harry Potters und Schätzings.

"Wir müssen über Kevin reden" forderte mich der Titel auf und folgsam griff ich das Buch, las den Rückentext und - wie es eine meiner Eigenheiten ist - den ersten Satz, ehe ich mir sicher war, dieses Buch lesen zu müssen.

"Kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag", so informiert der Rückentext "richtet Kevin in der Schule ein Blutbad an. Innerhalb weniger Stunden ist das Leben seiner Mutter Eva nicht mehr, wie es war. Von allen verurteilt, findet sie den Mut, sich in aller Offenheit quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihre Ehe retten können? Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können?"

Bereits die ersten Seiten waren eine sprachliche Offenbarung für mich. Unabhängig vom Inhalt bot sich mir eine sprachliche Ausdruckskraft, die ich selten in Büchern habe finden können bislang.
Beschämt fühlte ich mich selbst gefangen in meinem geringen Vermögen, das auszudrücken, was mir am Herzen lag und liegt. Mein eigenes Sprachvermögen erschien mir mit einem Mal verkümmert und desolat.
Da schrieb jemand wie ich dachte.
Nicht zwangsläufig was ich dachte, aber wie ich dachte und erst später dann kam die Erkenntnis, dass durchaus auch das was ich dachte, denke, denken werde in diesem Buch auf eine Art und Weise zum Ausdruck kommt, wie sie eindringlicher nicht beschrieben werden kann.

Das Buch zog mich von der ersten Seite in seinen Bann.
Ich erkannte mich in Eva wieder. Dieser Frau, die selbstbewusst und durchaus mit einer kleinen selbstherrlichen Note durch das Leben schritt, ihr Leben meisterte, wie man so schön zu sagen pflegte und sich nun in zahlreichen Briefen ihrem Mann offenbart.

Viele ihrer Gedanken waren auch schon meine Gedanken, natürlich nicht in so sprachgewandter und wortgewaltiger Weise, aber im Kleinen, im Stillen, in mir.

Die Kritik, die das Buch von vielen Lesern ertragen muss - es habe Längen - kann ich nicht teilen, weil allein die Art des Schreibens mich fesselte und beeindruckte.
Je mehr ich las, je mehr Seiten ich verschlang, je schwieriger wurde es für mich, mir das Bewusstsein dafür zu erhalten, dass die Autorin Lionel Shriver hier kein authentisches Buch geschrieben hat, sondern eine fiktive Geschichte.

Die Fiktion liest sich zu echt, zu natürlich, zu beklemmend, zu authentisch.

Ich mache mir nichts vor. Voyeurismus meinerseits muss im Spiel gewesen sein. Die Lust daran, das Entseztliche zu lesen, zu lesen, wie Menschen einen Amoklauf erleben, zu erfahren, was geschehen ist.
Das Leiden einer Mutter, das Mitleiden von einer Seite, die nicht betroffen ist, etwas Entsetzliches liest, darüber hinweg liest in dem Glauben, es beträfe immer nur andere.

Langsam führt Eva uns anhand ihrer Briefe durch ihr Leben. Ihr Leben, das ihres Mannes, ihres Sohnes.
Ich genieße es in den Alltag dieser mir so fremden Familie zu blicken, erkenne Hoffnungen, Wünsche, Ängste, sehe aber auch auf Trostlosigkeiten, die an manchen kleinen Stellen Gemeinsamkeiten mit eigenen Trostlosigkeiten verdeutlichen und verspüre Solidarität, wenn es darum geht, dass es unglaublich schwierig ist seine Mutterrolle nahezu perfekt ausfüllen zu wollen.

Ich erlebe Kevin, ein freudloses Kind, erlebe sein Aufwachsen und das, was sich da mal subtil, mal brutal zwischen Vater, Mutter und Sohn abspielt.
Und weil der Rückentext es bereits verrät, sehe ich das, was da Brief um Brief auf uns zukommt.

Ich habe selten ein so eindrucksvolles Buch gelesen. Ein Buch, das ich gestern nach dem Auslesen nicht einfach weglegen konnte, um mir das nächste zu greifen.
Vielleicht ist es auch die Nachhaltigkeit, die mich bewegt.
Vielleicht einfach nur die Tatsache, dass es auch mich treffen kann.
Jederzeit. Als Mutter, als Freundin, als Lehrerin, als Frau.

Ich legte das Buch auf den Nachtisch, löschte das Licht und ließ die Tränen im Dunklen meine Wangen hinabrinnen.
Vielleicht, weil da ein ganz kleines Stück "ICH" irgendwo in diesem Buch versteckt ist.
Vielleicht aber auch, weil es eine furchtbar traurige Geschichte ist.
Und vielleicht, weil ich ein wenig neidvoll auf die Frau schaue, die derart wunderbar schreiben kann.



augenBloglich 22.06.2007, 11.40

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Kommentare zu diesem Beitrag

3. von Chris

Liebe S.,

vor ein paar Tagen lief ich an diesem Buch vorbei und erinnerte mich an Deinen Blogeintrag.

Inzwischen hab ich das Buch durch und bin einfach sprachlos...

Liebe Grüße an Dich
Chris

vom 15.08.2007, 11.28
2. von Annette

Hallo Susanne
vielen Dank für deinen Tipp. Ich habe dieses Buch auch verschlungen. Ich fand es sehr sehr gut geschrieben. Erst hatte ich ein bissi Angst vor der "Geschichte", aber es war wirklich interessant.

liebe GrüßeAnnette

vom 17.07.2007, 21.14
1. von Ludovika

hab ich mir gleich in meiner bib vorbestellt, die haben es da, dieses buch, vor dem ich mich fürchte und das ich gleichzeitig unbedingt lesen will- nach deiner so persönlichen rezension!
dankschön und gruß von Lu

vom 23.06.2007, 20.29
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Nochmal herzlichen Dank für die Hilfe und du hast einen sehr tollen Blog ! (:
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Hi, bist du gar nicht mehr hier am Werk??? Das wäre aber schaade.
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patricia
wie heißt deine lehrerin!!!!!!!!
1.3.2008-16:20
NIcole
Hey, ich find das super das Du Dich durchgesetzt hast bei den anderen Müttern. Ist doch egal was die sagen. Bin stolz auf Dich. lieben Gruß
NIcki
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