Schweißgebadet hatte ich uns endlich einen Tisch erkämpft.
Gut, ich musste ein wenig nachhelfen und der russischen Dame, der ich meinen Ellbogen in die Seite rammen musste, um vor ihr am einzig leeren Restauranttisch zu sein, schmerzen sicher noch heute die Rippen, aber man muss Opfer bringen, wenn man in einer 1500 Personen Bettenburg einen abendlichen Essensplatz ergattern will.
Ich hätte dem ältlichem schottischen Herren nicht unbedingt mein Bein in den Weg stellen müssen, richtig, da spielten gewisse Racheglüste eine Rolle, denn der gute Mann hatte wenige Stunden zuvor versucht meine liebreizenden Töchter aus dem Pool zu verbannen.
"Kids, go away!" brüllte er und trampelte auf unseren 3 Euro türkischen Luftmatratzen herum, dass ausgerechnet dieser Mensch den einzigen freien Tisch vor mir ergattern sollte, das ging ja schonmal sowas von gar nicht.
Die Niederländer waren leicht zu überrumpelnn.
"Schauen Sie mal dahinten, wie wunderschön!" rief ich theatralisch und wies mit meiner Hand in das große gähnende Nichts vor unserem Hotel - die Müllhalde dort sah man im Dunkel nicht - und nutzte die Sekunde ihrer Abgelenktheit, um mich schwungvoll vor ihnen auf den freien Stuhl zu werfen.
Dass ich dabei den smarten Italiener vom Stuhl schmiss, der es wagte, sich vorzudrängeln, war im Grunde nur eine logische Konsequenz und eigentlich nicht erwähnenswert.
Quer über den ganzen Restaurantplatz schrie ich meiner restlichen Familie zu und winkte beidarmig und im mich schlagend.
Innerhalb von wenigen Tagen hatte ich es gelernt, mich den anderen Hotelgästen anzupassen und verteidigte nun stolz den errungenen Platz.
Zu sitzen war zwar nur ein erster kleiner Sieg, aber ein nicht zu verachtender.
Mein Blick schweifte direkt zu den umliegenden Tischen, denn was nun noch zum weiteren abendlichen Glück fehlte war Besteck.
Mittlerweile waren wir bescheiden geworden und teilten uns gerne ein Messer, eine Gabel und gegebenenfalls einen Löffel.
Reihum bekam man so, sofern man sich zum Buffett hatte durchkämpfen können, immerhin einen einigermaßen gepflegten Bissen in den Mund.
Die Mädel tendierten eher zur Piratenmethode und hatten schnell gelernt auch non-finger-food mit den Fingern zu verspeisen.
Besteck, so viel hatten wir bereits bei den anderen Reisenden abgeschaut, klaute sich man sich bestenfalls dann, wenn Leichtsinnige eines Tisches sich gleichzeitig in das Buffettgetümmel
stürzte.
Die polnische Familie staunte nicht schlecht, als sie zwar mit übervollen Tellern an ihren Tisch zurückkam, aber nun messer- und gabellos dumpf vor den Kuchen- und Kebabbergen saß.
Der pfiffige all-in-one-Tourist baut vor.
Erste Lektion: Lasse Deinen mühsam erkämpften Tisch niemals, auch nicht eine Sekunde, alleine oder gar aus den Augen.
Wir waren für das Abendessen gewappnet.
Alles hätte wirklich schön werden können.
Nett sozusagen, sieht man von den sturzbesoffenen Mitreisenden ab, die grölend unter den Tischen, Stühlen oder auch schonmal im Pool lagen.
Ein nettes Abendessen, sofern man zum Buffett gelangte.
Dann aber hatte sich eine deutsche Großfamilie die beiden Tische neben uns erkämpft.
Nicht so sittsam wie wir, nein, durchaus nicht.
Sie kamen, rissen den armen Spaniern die Stühle unter dem Allerwertesten weg und schrien:
"Ey, ihr wart lange genuch hier, macht euch vom Acker!"
Um wie viel kulitivierter waren da Rippenstößen und Beinchenstellen.
Mit hochgezogener Braue schaute ich verachtend auf die Bollofamilie herab und kümmerte mich um die eine, matschige, mühsam errungene Tomate auf meinem Teller.
"Jeremy, kommse her, ey!" schrie Mutter Proll und mir war sofort klar, dass das abendliche Essvergnügen ab sofort um eine Schwierigkeitsstufe gestiegen war:
Neben Tisch erkämpfen, Besteck klauen und Buffettkampf würde es fortan auch heißen müssen:
Weit weg von der Jeremy Fraktion.
Diese hingegen verkündete gerade lauthals:
"Ey, die Scheiß Russen, guckma. Teller voll, Hals voll, besoffen.
Alles schlechte Menschen, alles." war sich Jeremys Vater sicher.
"Pääätrick, datt kannse so nicht sagen ---- JEREMY, watt hab ich dir gesacht, kerr, komm her jetzt, verdammt ------ sind nicht alle scheiße. Gibt auch gute Russen!" wandte Mutter Jeremy ein und wurde direkt angeschrien:
"
Gute Russen, hasse einen Pfeil im Arsch oder watt! Zeigse mir, die guten Russen will ich sehen!"
"Jeremy, hierhin, verhau nicht immer die andern Kinder, kerr, komm her hab ich gesagt sonst setzt ett watt!"
Der Genuss meiner Tomate war durchaus eingeschränkt, denn Jeremy war mittlerweile unter unseren Tisch gekrochen und biss mir in die tief gebräunte Wade.
Ein kleiner Tritt meinerseits beförderte das wohlerzogene Kindchen unter den Tisch unserer besoffenen belgischen Nachbarn.
Sollte Jeremy sich doch an belgischer Wade genüsslich tun.
"
J E R E M Y, wo steckste schon widda!" kreischte die verzweifelte Mutter und zündete sich die 47. Zigarette an.
"Boah, stell dir vor, wir müssten datt alles zahlen!" bemerkte ihr Mann und trank das 24. türkische Bier.
Ich beschloss, dass ich diesen Abend ebenfalls nur mit Alkohol überleben würde und drängelte mich an die Bar.
Mit zuvor wohl zurechtgelegten Worten bat ich den Kellner freundlichst, in bestem Oxford Englisch, mir bitte Sprite mit Bier zu mischen.
"Radler?" fauchte mich der Kellner an und ich war so perplex, dass ich nicht antworten konnte.
Diese zögerliche Sekunde nutzte Olga, eine sehr eifrige Russin, die jeder Hotelgast bereits kannte, da sie keine abendliche Animation ausließ und sich gerne und immer wieder auf der abbruchreifen Bühne auszog, um mich zur Seite zu schubsen.
Ich stieß daraufhin einen alten Iren an, der seine Suppe vor Schreck fallen ließ und mich bitterböse anbrüllte.
Es klang zumindest so, als würde er mir die irische Pest an den Hals wünschen.
Mit Sicherheit kann ich das aber nicht behaupten, da meine Ohren mit dem gellenden Geschrei von Mutter Jeremy angefüllt waren:
"Jeremy, lass datt Bein der Tante los. Hörse?"
Jeremy schien nicht zu hören und ich wunderte mich kurz darüber, Frau Jeremy an der 1,3 Kilometer entfernten Bar immer noch hören zu können.
Mittlerweile minimal angenervt drängelte ich drei Damen aus dem Kosovo beiseite und bestellte ein Radler.
Die Kellner hatten gewechselt und der nun hinter der Bar stehende schaute mich an, als sei ich irre.
Wahrscheinlich lag er da gar nicht so falsch.
Ich sagte mein einstudiertes englisches Sprüchlein auf.
"No Inglisch hier this Bar. Russian?"
Russisch wollte ich an diesem Abend nicht unbedingt mehr lernen und verzichtete lieber auf mein Radler.
Auf dem Rückweg zum Tisch, geschätzte 2 Kilometer wagte ich einen Vorstoß zum Buffet und konnte es kaum glauben, als ich noch drei Gurken und zwei Salatblätter erhaschen konnte.
Wenn das mal kein Grund zur Freude war.
Stolz bugsierte ich meinen Teller durch die Menschenmassen.
Da passierte es.
Nicht zum ersten Mal, nein, aber bislang saß ich immer und musste keinen Teller im Stockdunkeln zum Platz balancieren.
Die Stromausfälle kamen regelmäßig und immer öfter, aber warum ausgerechnet, als ich mir ein üppiges Abendmahl hatte ergattern können?
Ich hielt mir den Teller über den Kopf.
Nicht, dass noch jemand meine Ausbeute moppsen würde im Dunkeln.
Nach dreiminütiger Dunkelheit sah ich, dass ich meinen Teller schräg gehalten hatte und mein opulenter Salat unter die Treter ganzer Horden von Menschen geraten war.
"Jeremy, scheiße, was machse da?" tönte es in meinen Ohren.
Und ich denk noch so:
"Kann Urlaub nicht herrlich sein?"
als die volltrunkene Olga mir ihre 234. Vodka-Cola in den Ausschnitt goss.........